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Radikale Aufklärung

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Eine Welt der offenen Quellen von A.E. Freier

Radikale Aufklärung – eine Welt der offenen Quellen (Einleitung)

Wir schreiben das Jahr 20XX. Die Menschen tragen kleine Hochleistungscomputer an ihren Körpern, welche mit Sensoren, Bildschirmen und Soundeffekten direkt an ihre Sinnesorgane und damit an das Gehirn angeschlossen sind. Gekoppelt sind diese Hirnschnittstellen an ein Netzwerk, welches von einem Konglomerat riesiger Techfirmen betrieben, überwacht und manipuliert wird. Gemeinsam mit dem Militär, den Strafbehörden und einer korrupten Führungselite der einzelnen Regionen, werden alle Gedanken, Ereignisse, Gespräche und Bewegungen der Menschen aufgezeichnet, analysiert, manipuliert und wieder gegen sie verwendet.

Mächtige neuronale Netze erstellen haargenaue Profile jedes Einzelnen, welche dann ebenso mächtigen Algorithmen übergeben werden und die Menschen dahin leiten, wo es vorgesehen ist. Krieg, Armut, Seuchen erscheinen den Individuen als eigene Wahl oder doch zumindest als unabwendbares Schicksal, welches von einem großen, dunklen, unbekanntem Ding gnadenlos erzwungen wird. Ein Großteil der Bevölkerung hat sich dem Algorithmus und seinen Herren vollständig ergeben, verteidigt seine Macht, spricht seine Sprache und salutiert ca. alle 40s in dem es die Schnittstelle mit dem Kopf verbindet.

Die im vorigen Jahrhundert noch so mächtige Zivilgesellschaft hat sich praktisch aufgelöst. Presse, Journalisten und Intellektuelle (ebenfalls vor nicht allzu langer Zeit wichtige Stützpfeiler einer freien Gesellschaft) unterwerfen sich offen Kampagnen. Die Suche der Wahrheit gilt als falsch und destruktiv. Die Suche nach der Wahrheit muss unterbunden werden. Ab und an gab es Einzelne, die die neue Logik offenlegten und zeigen, dass es sich doch nur um Menschenwerk handelt und dass man es ändern kann. All diese Einzelnen sind nun im Gefängnis auf der Flucht oder im Wahnsinn. All diese Einzelnen wurden vor der Öffentlichkeit quasi hingerichtet.

Die Machtzentren werden immer kleiner, aber immer mächtiger. 1% der Weltbevölkerung besitzt alles. Der Rest bekommt Almosen. Doch meist nicht mal das. 9 Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Hunger, während anderen täglich das millionenfache eines durchschnittlichen Arbeitergehalts zu Verfügung steht. Unter den besitzlosen 99% tobt ein gnadenloser Überlebenskampf, der hauptsächlich durch Hass und Verachtung geprägt ist. Politisches Denken und Handeln ist einem nutzlosen, für die Herrschenden ungefährlichen, Ringen um Trivialitäten gewichen. Vorlieben beim Konsum oder Spitzfindigkeiten in der Alltagssprache schaffen unversöhnliche Lager, die niemals aufhören können, gegeneinander zu kämpfen. Und sie kämpfen um NICHTS, um gar nichts.

Eine schreckliche Dystopie, oder? Wie konnte es so weit kommen? Wie konnten wir uns von den Idealen der Aufklärung so weit entfernen? Und können wir was dagegen tun?

Ja können wir

Radikale Aufklärung – eine Welt der offenen Quellen

Das Ende der Aufklärung?

Im 19. und 20. Jahrhundert glaubte man im Allgemeinen, dass sich der Verlauf der Welt und die Geschicke der menschlichen Gesellschaften historisch entwickeln. Das heißt, man nahm an, dass es immer eine Progression gibt und dass sich alles ständig zum Besseren entwickelt. Noch in den spätbürgerlichen Staaten nach dem 2. Weltkrieg wurde davon ausgegangen, dass die nächste Generation es einmal leichter haben wird. Die Kinder sollten es mal besser haben.

Ausgelöst wurde dieser Gedanke zum einen durch den enormen Erkenntnisgewinn durch die immer versierter werdenden Wissenschaften. (Zu nennen ist in diesem Zusammenhang sicher Charles Darwin und seine Entdeckung in Bezug auf die Entstehung der Arten). Sowie die, durch Hegel und später Marx, populär werdende historische Betrachtung in den Geisteswissenschaften.

Wissen, Ethik und Politik entwickelten sich demnach nicht durch göttliche Fügung oder die erleuchteten Geistesblitze weniger begnadeter Auserwählter, sondern durch eine gemeinsame Leistung der Menschheit. Wissen und Erfahrung wurden über Generationen und Generationen weiter gegeben, hinterfragt, auf Irrwege geführt und von Irrwegen befreit. Der Gedanke war positiv. Auch wenn sich diese Entwicklung keineswegs linear vollzog, schien es doch Gesetz zu sein und man konnte eine ständige Vervollkommnung der Menschen und der menschlichen Gesellschaften erwarten.

Der immer rasantere Aufstieg der Industrialisierung, und die damit einhergehende Beschleunigung der Kenntnisse der Physik, konnten offensichtlich wahre Wunder bewirken. Immer mehr schwere und unangenehme Arbeiten wurden von Maschinen erledigt, elektrischer Strom, sich selbst antreibende Fahrzeuge, Übertragung von Informationen, Bild und Ton über 1000e Kilometer kündeten von einer glorreichen Zukunft.

Doch all dies blieb nicht unwidersprochen. Wenn alles deterministisch, empirisch und berechenbar darzustellen ist, dann gibt es keinen Gott. Religionen lehnen naturgemäß eine historische Sicht auf die Welt ab, da sie meist davon ausgehen, dass es einen ersten Beweger, einen Erschaffer der Welt gibt oder doch zumindest alles in einem Zyklus, einem Kreislauf geschieht. Veränderungen können aus dieser Sicht nur Oberflächlichkeiten und Nebensächlichkeiten sein, da am Ende doch alles wieder in dem Einen, in dem Ursprung aufgeht.

Auch gab es (und gibt es) reaktionäre Kräfte. Diese lehnen eine Progression ab, vornehmlich schlicht aus persönlichen Gründen, da diese mit Verlust von Macht, Besitzt, erblichen Adelsrechten oder Ähnlichem einhergeht. Oder sie wollen glauben, dass bestimmte Gruppen (ihre eigene) uralte Rechte auf bestimmten Boden oder gleich auf die Existenz im Allgemeinen haben.

Die Aufklärung, die Grundlage jeder bürgerlichen Gesellschaft (und in der auch andere Gesellschaftsmodelle wie der Kommunismus ihre Basis haben), ist im Kern eine zutiefst historische und materialistische Begebenheit. Im 19. und 20. Jahrhundert schienen die Aufklärung und die Französische Revolution unumkehrbare Ereignisse zu sein. Doch im 21. Jahrhundert bröckeln die Gewissheiten.

Die Progression scheint kein Heilsversprechen mehr zu sein. Umweltzerstörung und rasante Zunahme der Ungleichheit, fatale Armut, Hungertod und Migration sind unabänderbare Konstanten der aktuellen Weltgemeinschaft. Günther Anders Warnung(1), dass die Menschheit von der eigenen technischen Revolution überholt wird, ist schon lange kein bizarrer Plot für billige Science-Fiction-Romane mehr.

Durch Spezialisierung und Expertentum ist die Digitalisierung, die binnen kürzester Zeit das Leben aller Menschen verändert hat (ich denke man macht keinen Fehler, wenn man den Beginn der Digitalisierung auf das Jahr 2000 mit der Gründung von Google legt) zu einem für das einzelne Individuum undurchschaubaren mythischen Monster geworden.

Die Digitalisierung, die zu 100 Prozent aus empirischen, rationalen mathematischen Berechnungen besteht, scheint ein Göttergötze geworden zu sein. Willkürlich, unberechenbar(!) und grausam. Doch wenn sie doch nur Menschenwerk ist, wenn sie eben berechenbar ist, kann sie dann nicht die Rettung der großen Gedanken der Aufklärung sein. Vielleicht gibt es doch “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit”? Vielleicht wendet sich doch alles zum Besten?

(1) Günther Anders Die Antiquiertheit des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. C. H. Beck, München 1956

Commons und das Kapital

Einer der Hauptunterschiede der bürgerlichen Epoche zu allen voran gegangenen ist das Kapital. Das meint den Privatbesitz gemeinschaftlicher Güter und Ideen. Produktionsmittel, Boden, Patente, unter Umständen auch Menschen als Arbeitskraft gehören einzelnen privaten Personen, die damit eigene, private Interessen verfolgen. Es entsteht die Klasse der Kapitalisten, und man nennt diese Gesellschaftsform deswegen auch Kapitalismus. Die liberale Idee dahinter ist, dass es so zu einem permanenten Konkurrenzkampf der Einzelinteressen und Egoismen kommt, die dann am Ende doch für alle Gutes und Richtiges schaffen.

Ist es in einer idealisierten, romantischen Welt eines Adam Smith, vielleicht noch möglich so zu denken, da dort alle dieselbe Ausgangslage haben, wird in der realen Welt schnell sichtbar, dass es zur Akkumulation des Kapitals kommt. Die Voraussetzungen sind keineswegs gleich. Dort, wo sich das Kapital befindet, wird sich mehr Kapital sammeln. Es entstehen zentralistische Strukturen, Monopole, Imperien, Eliten. Der Kapitalismus kippt in den Imperialismus. Die gesellschaftliche Gewalt wird privatisiert und die anderen Ziele der bürgerlichen Revolution wie Gleichheit oder Demokratie können so nicht entstehen oder bestehen und werden unmöglich. Die bürgerliche Gesellschaft schafft sich selbst ab.

Das ist, wie wir spätestens seit Rosa Luxemburg (2) wissen, keine traurige Perversion, die man bekämpfen kann, sondern die Akkumulation des Kapitals und Zentralisierung der Macht ist auf Privatbesitz beruhenden Gesellschaften immanent und geschieht zwangsläufig.

Extreme Auswüchse kann man in den spätbürgerlichen Gesellschaften der letzten Jahrzehnte beobachten. Unter dem in den 1940ern entwickelten Begriff des Neoliberalismus wird gewissermaßen alles privatisiert. Gedanken, Gefühle, kommunale Infrastruktur, Politik und Politiker, Krieg und Frieden. Mit dem Aufkommen der Digitalisierung und deren vollständigen Privatisierung gibt es heute keinen Ort mehr, der nicht anderen gehört, der uns nicht vollständig entfremdet ist.

Auf der anderen Seite gibt es die sogenannten Commons, ein etwas schwammiger Begriff (der sich leider auch schlecht ins Deutsche übersetzten lässt, da höchstens “Allgemeingut” infrage käme, was sich aber nur auf Güter bezieht). Commons bezeichnet “das, was allen gehört”. Ein klassisches Beispiel ist die Landschaft. Landschaft gehört immer allen, denn selbst wenn das Land einem bestimmten Menschen gehört, gehört doch die Landschaft immer dem, der sie betrachtet.

In unserer neoliberal geprägten Welt werden, nach und nach alle Commons privatisiert und damit per definitionem gestohlen. Eins der extremen Beispiele ist z.B. das Betriebssystem. Das Betriebssystem, also die Software, die einen Computer benutzbar macht, ist eine der großen Leistungen der Menschheit, keine Firma und schon gar nicht eine einzelne Person, hat dies geschaffen oder darf das verkaufen.

Bekanntlich wird das aber gemacht, genau wie viele andere, durch die Menschheit geschaffene Produkte, Gedanken, Wissen dreist an die Menschen zurückverkauft werden, obwohl es ihnen längst gehört.

So traurig wie die Situation im Moment aussieht, so offen zeigt es aber auch, wie wir dies überwinden können. Wir müssen es schaffen, das Kapital zurück oder das erste Mal in Commons zu übertragen. Diese Idee ist nicht neu, “Produktionsmittel in die Hand der Arbeiter.” “Die Häuser, gehören denen, die darin wohnen.” usw. Das geht nur mit Gewalt. Doch die Digitalisierung öffnet uns eine völlig neue Möglichkeit. Die Digitalisierung eröffnet uns einen Weg, die Werte der Gesellschaft und die Teilhabe daran zurück oder erstmals in die Hände derer zu legen, die die Gesellschaft sind – wir, die Menschen.

Die Idee dazu, und die ist einfach und radikal, kommt aus der Softwareentwicklung. Es ist die Idee der offenen Quellen, der open sources!

(2) Rosa Luxemburg – Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Buchhandlung Vorwärts Paul Singer, Berlin 1913

Die Intelligenz der Massen

Im Zuge der rapide fortschreitenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstand ein neues Phänomen. Eine in der Menschheitsgeschichte so noch nie dagewesen Veränderung, die Entstehung der Massen. Das Zentrum des kulturellen und vor allem wirtschaftlichen Lebens verschob sich vom Land in die Stadt. Von einer seit Jahrhunderten geprägten sozialen Gemeinschaft im Dorf oder der Kleinstadt zu den anonymen Arbeitermassenquartieren in den immer riesiger und dominanter werdenden Industrie- und Großstädte.

Dies änderte die Gesellschaft fundamental. Die Klassenverhältnisse änderten sich von Bauer und Herren zum Heer der Arbeiter, den Proletariern, und denen, die die Arbeiter für sich arbeiten lassen, den Fabrikbesitzern und Kapitalisten. Die Masse ist somit ein politischer Akteur. Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass die Massen eine sehr ambivalente Rolle spielen kann. Zum einen wurden totale Kriege und unglaubliche Grausamkeiten im Namen des Volkes, der Gemeinschaft oder der eigenen Gruppe begangen, zum anderen setzte sie eine ungeheure Demokratisierung und Zerstörung der Herrschaftsstrukturen in Gang.

Heute leben wir in einer Massengesellschaft, mit allen Vor- und Nachteilen und ob wir wollen oder nicht. Jede Herrschaftsstruktur muss, wenn sie die Herrschenden an der Macht halten will, die Massen kontrollieren. Dies geschieht neben direkter Gewalt oder materieller Abhängigkeit, vorrangig durch die Medien. Spielte schon das Radio im 2. Weltkrieg eine nicht zu unterschätzende Rolle zur Mobilisierung der Menschen, kommen heute noch das Fernsehen und im entscheidenden Maße das Internet dazu.

Das Internet (im weitesten Sinne) ist heute der wichtigste Akteur, wenn es darum geht, eine Entscheidung zu treffen oder sich zu einer Entscheidung verleiten zu lassen. Es kann die Menschen veranlassen bestimmte Produkte und Marken zu mögen oder bestimmte Gruppen zu hassen, es entscheidet über Krieg und Frieden. Dominiert wird das, was wir heute Internet nennen, von einer Handvoll riesiger Tech-Konzerne, die sich, wenn überhaupt, nur lieblos die Mühe machen, ihre Verbindung zu Militär und Macht zu verstecken.

Auf den ersten Blick scheint es heute mühelos zu gelingen, die Menschen zu lenken und sie zu manipulieren. Die Massen scheinen dumm und apathisch, höchstens fähig sich zu einem Mob zu verbinden. Doch schaut man genauer hin, sieht man ein Phänomen, welches sich bei der Vernetzung von Menschen und Kulturen fast immer ereignet, der Austausch von Wissen, die Vermehrung von Wissen, die Intelligenz der Massen.

Wie viele Fliesen wurden gelegt und viele Socken gestrickt, mit Anleitungsvideos aus dem WWW? Wie viele Fragen beantwortet und Projekte organisiert? Das Wissen der Einzelnen ist in der Kombination fast unendlich, zumindest was unsere kleine Welt auf unserer kleinen, runden Erde betrifft. Diese Kombination des Menschheitswissens ist unglaublich mächtig und neben dem korrekten Legen von Fliesen eine Möglichkeit zu echter Emanzipation und Selbstermächtigung.

Dies kann nicht gelingen, wenn dieses Wissen in der Hand einiger weniger, oben erwähnter Konzerne liegt und diese den Zugang beliebig verweigern, erschweren oder manipulieren können. Dieses Wissen entfaltet seine Macht durch den freien, uneingeschränkten Zugang für alle Menschen und durch die Dynamik, die daraus entsteht, dass dieses Wissen beliebig verändert, kombiniert und neu verhandelt werden kann.

Um das zu gewährleisten, benötigt man offene Quellen. Diese garantieren permanente Verfügbarkeit und permanente Transparenz, wie sich die Quelle geändert hat und was ihr Ursprung ist. Open Sources sind eine radikale Idee.

Freiheit, unser höchstes Gut?

Descartes, Spinoza, Rousseau und Kant und allen anderen großen Vordenkern und Philosophen der europäischen Aufklärung ist ein Grundsatz gemeinsam (und damit zentral im aufklärerischen Denken), die Selbstbestimmtheit des Menschen. Der Mensch hat ein “Naturrecht”, ein Menschenrecht, was ihm sozusagen in die Wiege gelegt wird. Der Mensch wird mit einem freien Willen geboren und hat damit das natürliche Recht, eigene Entscheidungen zu treffen und über sich selbst zu entscheiden.

Kant fasste, in seinem Essay “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“(3), die Idee der Aufklärung mit “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.” zusammen. Die Idee der Unabhängigkeit von Kirche, Autoritäten und Monarchen ist seither zentraler Bestandteil jeder modernen, bürgerlichen Gesellschaft.

Anders als die Moderne, die ein rein gesellschaftliches, europäisches Produkt ist, scheint die Aufklärung ein, der gesamten Menschheit innewohnender, Prozess der universellen Emanzipation zu sein. Freiheit ist nicht verhandelbar. Freiheit ist ein Menschenrecht.

Im Gegensatz zur Freiheit ist die Unmündigkeit kein Naturgesetz, sondern Unmündigkeit muss erworben werden. Seit der Antike fragen sich denkende Menschen, warum es möglich ist, dass sich immer wieder Wenige über die Vielen erheben können und denen ihren Willen aufzwingen. Für die Vielen wäre es ja ein Leichtes, Monarch oder Herr zum Teufel zu jagen.

Neben der Apathie, ist es immer wieder die Angst, die die Menschen in Knechtschaft hält. Angst vor dem Ungewissen, Angst vor dem Feind, vor Krankheiten, Seuchen, Gott oder den Dämonen. All diese Ängste sind antiaufklärerisch, da sie immer auf einen irrationalen Kern abzielen. Die europäische Aufklärung stellte dem Irrationalismus ein empirisches, rationales Denken entgegen, welches alle auf der Erde erkennbaren Phänomene als eine Abfolge von Ursache und Wirkung beschreiben kann. Das bedeutet, dass alles im Ende untersuchbar, kategorisierbar und damit erklärbar wird. Angst hat da keinen Platz und kann nur Teil der individuellen Erfahrung sein, hat aber keinen allgemeingültigen Stellenwert.

Der Rationalismus ist, wie oben gezeigt, keineswegs unwidersprochen. Aber alle unseren moderne, hochtechnologischen Industriegesellschaften beruhen auf dem Wissen, dass jede Wirkung auch eine Ursache hat.

Aber gilt das noch in unserer Zeit? Ist es wünschenswert, dass der Einzelne frei entscheidet? Angesicht der Bedrohungen der heraufkommenden Epoche? Angesichts von Klimaerwärmung, Seuchen und unüberschaubaren Konflikten? Ist nicht ein voraufklärerischer Dualismus, ein klares Einteilen in Gut und Böse viel besser geeignet für die Herausforderung der Zukunft als ein freier Wille, der uns am Ende ins Verderben stößt?

Diese Sicht auf die Welt ist am Anfang des 21. Jahrhunderts stark verbreitet. Nietzsche nennt das, nicht ohne Grund, Sklavenmoral. Ein simpler moralischer Determinismus, der die Welt mit einem einfachen Gut/Böse Konzept erklären kann, ist in jedem Fall reaktionär. Viele der zeitgenössischen Verfechter dieses ideologischen Dualismus halten sich keineswegs für ein Teil der Reaktion, sondern als Wegbereiter einer unbekannten Zukunft. Bezeichnenderweise beinhaltet diese Ideologie einen Mythos des Neuanfangs und das Ende der Geschichte. Konsequent dualistisch wird das Wissen der Menschheit als “traditionelles Wissen” kategorisiert und als überholt und zukunftsunfähig dargestellt. Die Frage, ob Kinder in Deutschland noch in der Schule Goethes Faust lesen sollten, wurde schon gestellt.

Wenn man kurz nachdenkt, würde leicht auffallen, dass dieses Denken das Ende der Vernunft fordert und selbst jedem irrationalen, religiösen Idealisten die Schamesröte ins Gesicht treiben würde.

Wieso sollte gerade jetzt, wo die Welt vor enormen Herausforderungen steht, die Geschichte nicht mehr gelten? Ist Jesus zurückgekommen? Hat sich eine Maya-Prophezeiung erfüllt? Wieso sollten gerade jetzt Unmündigkeit und Konformität Garanten zur Lösung nie dagewesener gesellschaftlicher Veränderungen sein? Oder ist es heute nicht umso wichtiger, die Dinge zu hinterfragen und zu einem selbstbestimmten Urteil zu gelangen?

Dank Hegel haben wir ein ausgezeichnetes (wenn auch zugegeben schwer zu bedienendes) Werkzeug bekommen, die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit und verwirrenden Gesamtheit zu beschreiben. Die Dialektik. Das ist unser Schatz, unser großer Vorteil. Niemals sollten wir das aufgeben. Schon gar nicht für einen vorsteinzeitlichen, techno-gnostischen Dualismus à la Silicon Valley, der uns früh übers Smartphone mitteilt, was heute gut oder böse ist. Nieder mit der Unmündigkeit, ein Hoch auf die Freiheit!

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.”

(3) Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784

Die Dialektik der Freiheit

Wenn die Freiheit also unser höchstes Gut ist und wir nicht auf sie verzichten können ohne unser Dasein als Mensch aufzugeben, wie gehen wir dann mit ihr um? Freiheit bedeutet auch Gefahr.

Das ist die verwirrende Ambivalenz, die der Freiheit innewohnt. Wenn wir die Freiheit nicht beschneiden können, ohne sie zu verlieren, aber als Menschen auch nicht ohne Vertrag leben können, der das Recht des Stärkeren in seine Schranken weist und Willkür und Selbstjustiz verhindert, was können wir dann also tun, um dieses Paradoxon der Freiheit zu lösen?

Seit Aristoteles gibt es dazu eine rationale, wissenschaftliche Methode, um als Menschheit weder in Unmündigkeit noch in Willkür zu leben. Die Ethik. Im Gegensatz zur Moral, die ihre eigene Negation ist und als Unmoral den Zustand des Anderen, Verachtenswerten beschreibt, ist Ethik die wissenschaftliche Beschäftigung mit Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen.

Schon die vorsokratischen Sophisten sahen es als untragbar an, dass der Mensch als Vernunftwesen und mit freiem Willen ausgestattet, sich lediglich von Traditionen, Konventionen und Regelwerken leiten lässt.

Aristoteles erhebt dies in den Stand einer Wissenschaft, die uns erlaubt, rational, empirisch einen Gesellschaftsvertrag zu entwickeln und immer wieder zu verhandeln. Die Ethik setzt den Menschen als grundsätzlich vernunftbegabt und reflexionsfähig voraus. Wäre er das nicht, hätte er nie den Bereich der naiven Sensualität und Mystik verlassen können und wäre, wie ein Tier, lediglich seinen Trieben und Instinkten ausgeliefert.

Die Basis der Ethik bildet die Tugend. Im Gegensatz zu den Behauptungen in Offenbarungen und in Despotien gibt es keine transzendenten, vor der menschlichen Vernunft festgelegten Regeln. Moses 10 Gebote widersprechen jeder Wissenschaft und sind unethisch. Nicht im Inhalt, denn den gilt es zu verhandeln, sondern in ihrer gottgegebenen Unumstößlichkeit.

Die Verfassungen, die wir heute als Grundlage einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft erwarten, sind alle nicht von Gottes Gnaden oder durch den Geistesblitz eines einzelnen Menschen entstanden. Sondern in einem historischen Prozess erkämpft und verhandelt worden. Unser Zusammenleben ist ein Resultat dieses ethischen Prozesses.

Doch was bedeutet das für eine im Umbruch begriffene, globalisierte, digitalisierte Welt. Eine Welt, in der Nationalstaaten keine Rolle mehr spielen (auch wenn sich alle panisch daran klammern), in der Sprachbarrieren wegfallen und eine permanente Echtzeitkommunikation stattfindet?

Was man klar sagen kann ist, dass sich eine radikale Änderung vollzieht. Dass die alten Regeln, Gesetze und Verfassungen, dass der alte Gesellschaftsvertrag neu verhandelt werden muss. Ethik ist also die Wissenschaft der Stunde!

Bereits die Marxisten im 19. Jahrhundert haben versucht, eine Weltethik zu erschaffen. Sie nannten das Internationalismus, ein Wort, was Nationalismus schon im Namen trägt. Die Situation im 21. Jahrhundert ist eine andere, willkürliche Grenzen lösen sich auf, eine echte Weltgemeinschaft entsteht.

Und um das zu meistern, um eine Weltethik zu entwickeln, benötigen wir Werkzeuge, die uns das ermöglichen. Diese müssen, ganz im marxschen Sinne, Werkzeuge der Selbstermächtigung sein. Digitale Strukturen dürfen nicht in den Händen Einzelner oder Firmen oder Nationen liegen. Die Struktur muss frei sein.

Dass eine ethische Grundlage der Digitalisierung geschaffen werden muss, war klugen, vernunftbegabten Menschen schon von Anfang an klar. Die Basis des Informationszeitalters und des digitalen Wandels beruht auf Software. Neben den heute noch dominierenden proprietären Systemen und Programmen entstand schon früh die Open-Source-Software. Eine Software, die niemandem gehört, die von allen weiter entwickelt werden kann und die die volle Freiheit garantiert und perfekt geeignet ist als ethisches Werkzeug einer neuen Gesellschaft.

Open-Source-Software ist also kein technisches Phänomen, sondern ein ethisch, politisches. Eine Struktur für unsere Zukunft.

Die Struktur der Macht

Was steht nun einer Etablierung einer Weltethik entgegen? Warum macht die Menschheit sich nicht auf, auf einen Zustand zuzustreben, in dem alle Menschen sicher, frei und in Selbstbestimmung leben können?

Neben dem Bewusstsein, dass solch ein Zustand schwer oder auch gar nicht zu erreichen ist und dem daraus resultierenden Mangel an Mut diesen Schritt ins Ungewisse zu wagen, sind es vorrangig die Besitzverhältnisse und damit die Strukturen der Macht, die einem solchen Schritt fundamental entgegenstehen.

Anfang des 21. Jahrhunderts leben wir in einer spätkapitalistischen Gesellschaft. Wie in allen kapitalistischen Gesellschaften gibt es eine klare Aufteilung der Machtverhältnisse. Es gibt eine besitzende Klasse, der die Produktionsmittel gehören und die damit die Kontrolle über alle gesellschaftlichen Strukturen wie Staat, Militär, Polizei, Medien, Infrastruktur usw. hat. Zum anderen gibt es eine besitzlose Klasse in dem Sinne, dass ihr die Produktionsmittel nicht gehören, dass sie lediglich zum Mehrwertnutzen eines Anderen “arbeiten” kann und somit von Gewinn, Sinn und Erfolg ihres eigenen Arbeitsprozesses ausgeschlossen ist.

Es besteht also, nach wie vor, eine Klassengesellschaft. Schaut man in den globalen Verhältnissen nach, ist das Heer an Sklaven und Proletariern (also Menschen, denen nicht mehr bleibt als sich zu reproduzieren) nicht zu übersehen. Doch auch in den wohlhabenden Industriegesellschaften bleibt die Trennung in Besitzende und Besitzlose klar erhalten, wenn auch oft durch Tand und Privilegien verdeckt.

Entscheidend ist also, die Besitzverhältnisse zu ändern und die Mittel für die gesellschaftliche Produktion aus den Händen der Wenigen zu befreien. Die klassischen proletarischen Bewegungen der letzten 2 Jahrhunderte, waren überzeugt, dass es eine Art historisches Recht gäbe, dass diese Macht nun in die Hände der Arbeiter gelegt werden müsse.

Wir befinden uns jetzt aber an der Schwelle zu einer vollkommen digitalisierten Weltgemeinschaft. Das bedeutet aber auch, dass die Produktionsmittel, die bis jetzt die Basis der Machtstrukturen dieser Gesellschaft bildeten, ebenfalls digitalisiert sind. Die materiellen Voraussetzungen jeder Produktion (Werkzeuge, Maschinen, Fabriken) sind inzwischen untrennbar mit einem virtuellen Raum verknüpft. Einem Raum, der theoretisch unendlich teilbar und unendlich reproduzierbar ist und obwohl er auf materiellen Voraussetzungen beruht, selbst nicht als Materie fassbar ist.

Eine der Grundideen einer Gesellschaft der offenen Quellen ist, dass der virtuelle Raum so eng mit der mechanischen Welt der Produktion verknüpft ist, dass gewissermaßen ein neues Werkzeug entsteht. Der virtuelle, digitale Teil des Werkzeuges dominiert dabei den materiellen Teil. Wenn es also gelänge, die Machtverhältnisse im digitalen Raum in völlig neue Zusammenhänge zu setzten, würde das auch die materiellen Machtverhältnisse ändern.

Entscheiden dabei ist, dass diese Macht dabei nicht in neue Hände gelegt werden soll, sondern als offene Quelle für jeden Menschen nutzbar, veränderbar und wiederverwendbar sein muss.

Bei der Software gibt es daher folgende Open Source Definition(4):

  • Die Software (d. h. der Quelltext) liegt in einer für den Menschen lesbaren und verständlichen Form vor

  • Die Software darf beliebig kopiert, verbreitet und genutzt werden

  • Die Software darf verändert und in der veränderten Form weitergegeben werden

Auf unsere realen Machtverhältnisse in einer digitalen Welt angewandt, heißt das: die Werkzeuge der Macht, also die Produktionsmittel, dürfen von jedem Menschen, zu jedem Zweck benutzt und verändert werden. Einzige Bedingung ist, dass die veränderten Werkzeuge wiederum frei benutzt und verändert werden dürfen. Dass diese Definition in einer klassischen, materiellen Welt Nonsens ist, leuchtet schnell ein. Anders sieht das aus, wenn man davon ausgeht, dass Materie und virtueller Raum untrennbar miteinander verschmelzen. Dann sind diese 3, an sich unspektakulären, Forderungen gesellschaftlicher Sprengstoff.

Zu Ende gedacht verspricht dieser Prozess, aufgrund der permanenten Veränderbarkeit, sowohl die subjektive individuelle Freiheit als auch, aufgrund der permanenten Rückkopplung, volle Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess als solches.

(4) Quelle -Wikipedia “Definition der Open Source Initiative” – https://de.wikipedia.org/wiki/Open_Source

Forken der Ethik

Wie wäre nun in einer quelloffenen, digitalen Welt eine ethische und damit wissenschaftliche Neuverhandlung eines (Welt)Gesellschaftsvertrages denkbar?

Die Dialektik lehrt uns, dass es nicht die eine transzendente Wahrheit a priori gibt. Eine Zivilisation und die einzelnen Individuen sind geprägt von Ambivalenzen und sich widerstrebenden Erfahrungen, Voraussetzungen und Kausalitäten. Sie sind geprägt von Wahrheiten, die sich gegenseitig ausschließen. Um dieses Paradoxon zu lösen, hat die Menschheit in der klassischen Antike, wie oben gezeigt, die Ethik als ein rationales Instrument geschaffen, um diese Widersprüche immer wieder zu verhandeln.

In der quelloffen Softwareentwicklung (und nur da) gibt es einen Prozess des forkens. Einen Fork erstellen bedeutet eine Abspaltung eines Programmes zu machen. Ein an sich simpler und langweiliger Prozess in der Versionskontrolle, der sicherstellen soll, dass an einem identischen Grundprogramm in verschiedene, unabhängige Richtungen weiter gearbeitet werden kann.

So ist es jedem Menschen völlig frei möglich, ein beliebiges Open-Source-Programm zu kopieren und nach eigenem Vermögen und Interessen weiterzuentwickeln. Durch den sogenannten Fork kann man nicht nur das Wissen nutzen, was bis dahin in das Originalprogramm eingeflossen ist, sondern auch zukünftige Änderungen und Verbesserungen des Originalprogramms in sein eigenes Projekt übernehmen. Auch entsteht ein Rückkopplungsprozess, der wiederum Innovationen der Abspaltungen in das Ursprungsprogramm integrieren kann.

So wäre es denkbar, dass ein Programm zur Steuerung von Glühbirnen in einer Abspaltung zur Ansteuerung von Elektromotoren dient und Forks dieses Programmes könnten wiederum in der Robotik oder bei dem Betrieb von Staudämmen eingesetzt werden usw.

Dieser auf den ersten Blick technische Vorgang ist bei genauerer Betrachtung eine äußerst komplexe und als Prozess höchst effektive Art der Kommunikation. Eine Art Kommunikation, die im historischen Ablauf der Menschheitsgeschichte eine immense Rolle spielt und durch die Digitalisierung und die Erkenntnisse im Umgang mit den offenen Quellen enorme Kraft besitzt.

So ist das Prinzip des Forks aus der quelloffene Softwareentwicklung ein effizientes, dokumentierendes und wissenschaftliches Instrument zur Abbildung dieses Kommunikationsprozesses. Verbunden mit der Digitalisierung findet diese Kommunikation in Echtzeit statt und ermöglicht so eine permanente Neuverhandlung, Änderung und Neuanpassung ohne auf die etablierten und bereits verhandelten Merkmale zu verzichten.

Um dieses mächtige Instrument zur Verhandlung einer zukünftigen Ethik zu etablieren, bedarf es einer Struktur, die vollkommen frei ist. Nimmt man die Dialektik ernst, ist es unmöglich, einen solchen Prozess widerspruchsfrei und ohne Konflikte auszuführen. Auch Fehleinschätzungen und Irrwege sind Teil der menschlichen Natur. Fehler und Konflikte müssen also möglich und akzeptiert sein, ohne dabei das eigentliche Verfahren zu gefährden.

Mit den oben erwähnten Grundsätzen der Open-Source-Bewegung und dem Instrument der Forks und Abspaltungen im digitalen Raum stehen uns bereits mächtige Werkzeuge zur Verfügung, um diese Verhandlung der Ethik zu meistern.

Die Rückeroberung der Privatheit

Kant sieht in seinem Gesellschaftsvertrag die Vernunft in eine private und eine öffentliche Vernunft geteilt. Private Vernunft ist dabei die Art von Vernunft, die wir im “Amte” anwenden können, also eine Vernunft, die starken Einschränkungen unterliegt und deren Einhaltung für das reibungslose Gelingen notwendig ist. Die öffentliche Vernunft ist dagegen die des “Gelehrten”. Diese sollte, nach Kant, frei sein und alles hinterfragen und aussprechen dürfen.

Neben der Vernunft in der Öffentlichkeit gibt es noch einen Bereich der absoluten Privatheit. Also den Bereich der Familie, der Freunde oder des eigenen Ichs. In der Antike nannte man das Oikos, der Hausverband. Solang dieser Bereich nicht die Öffentlichkeit berührt, also z.B. keine allgemeingültigen Gesetze bricht, ist dort alles erlaubt und wird im Oikos selbst verhandelt. Nicht umsonst sind dort Sexualität und andere Dinge, die “öffentliches Ärgernis” erregen würden, angesiedelt.

Doch was passiert in einer digitalen Gesellschaft, in der sich diese Jahrhunderte alten Grenzen zwischen diesen Bereichen praktisch über Nacht aufgelöst haben? Diese Auflösung geschieht zum einen durch eine permanente Selbst-Publizierung in Echtzeit in den sogenannten “Sozialen Medien.” Und zum anderen, und wesentlich gravierender, durch die technisch machbare und real stattfindende Totalüberwachung und Aufzeichnung aller sich im digitalen Raum vollziehenden Ereignisse.

Da wir uns in einer vollkommen digitalisierten Welt befinden, finden auch alle Bereiche des Lebens dort eine Abbildung. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich um den privaten Bereich des Oikos oder um die öffentliche Betrachtung eines gesellschaftlichen Problems handelt. Wird also alles öffentlich und, wie heute jeder weiß(5), permanent aufgezeichnet, so bedeutet dies die völlige Abschaffung der Privatsphäre, des privaten Bereichs, des Oikos.

Das ist fatal. Während die öffentliche und private Vernunft, lediglich und wie zu allen Zeiten, neu verhandelt werden muss, ist der Wegfall der Privatheit eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte und galt bis dahin als ein Folterinstrument des Panoptikum in Strafanstalten und Gefängnissen.

Privatheit und Privatsphäre sind aber untrennbar mit gesellschaftlicher und individueller Freiheit sowie einem menschenwürdigem Leben im Allgemeinen verbunden. Die Rückeroberung der Privatheit ist somit der entscheidende Kampf am Beginn einer allumfassenden Digitalisierung, die keinen analogen Raum mehr lässt.

Doch wie kann dies geschehen? Im Bereich der Softwaresicherheit gibt es das Konzept des militarisierten und demilitarisierten Bereichs. Man geht davon aus, dass jedes Gerät und jedes Programm, welches mit dem weltweiten Netz verknüpft ist, immer angegriffen, ausgelesen, kompromittiert und manipuliert wird (oder werden kann). Alles, was im Internet, im digitalen Raum geschieht, findet also in der militarisierten Zone statt und ist laut Definition permanenten Angriffen ausgesetzt.

Die Antwort, wie man also Privatheit auch im digitalen Raum herstellen kann, kommt folgerichtig aus der Militärtradition. Es ist die Kryptografie. Seit dem Beginn militärischer Auseinandersetzungen hat die Menschheit versucht, wichtige Nachrichten so zu verändern, dass der Feind sie nicht auswerten kann.

Da im Internet potenziell alles vom “Feind” (in diesem Fall vom Feind der Privatheit) beherrscht sein kann, ist es also dringend notwendig, dass alles, was privat ist, und sei es noch so uninteressant und belanglos, verschlüsselt und kryptografiert sein muss. Die Herstellung einer voll umfassenden Kryptografie des privaten Bereichs ist damit eine der wichtigsten Aufgaben der Menschheit in der neuen Epoche.

Neben der Herausforderung dies den Menschen bewusst zu machen und umzusetzen, besteht eine der größten Schwierigkeiten darin, dass zur Ver- und Entschlüsselung kryptografische Werkzeuge benötigt werden. Diese können nicht in der Hand Einzelner oder Gruppen liegen, sondern müssen frei sein und als offene Quelle vorliegen. Das kryptografische Werkzeug an sich darf also selbst keine Geheimnisse beinhalten. Das Geheimnis zur Verschlüsselung, der Schlüssel muss in der Hand des einzelnen Individuums liegen, genau wie ein Schlüssel, mit dem man seine Wohnungstür verschließt, bevor man privaten Vorlieben nachgeht.

(5) Permanent Record (2019) Edward Snowden ISBN 9781529035650


Demokratie, das beste aller Systeme?

Die Digitalisierung ist ein globales Phänomen, es hat damit das Potenzial eine echte, gleichberechtigte Weltgemeinschaft zu etablieren. Heute ist es problemlos möglich, mit nahezu allen Menschen in allen Teilen der Welt in Echtzeit zu kommunizieren. Sprachbarrieren werden mühelos von Software überbrückt, eine Weltsprache kann entstehen, die aus allen bekannten Sprachen besteht, welche völlig frei und unabhängig sein könnten und doch wäre jeder Mensch fähig, die Sprache jedes anderen Menschen mühelos zu verstehen. Dies zusammen wäre mehr als der Internationalismus der Kommunisten, es würde eine Weltgemeinschaft, eine Weltgesellschaft möglich machen.

Dieses Phänomen ist heute schon allgegenwärtig. Es löst eine ebenso extreme Gegenbewegung aus, eine Reaktion. Überall auf der Welt kann man einen Rückfall in den Nationalismus beobachten. Nationalismus als Ideologie, und darum handelt es sich ja hier, endet in Barbarei, wie es uns, aus der europäischen Geschichte bekannt ist. Auf den ungebremsten Informationsfluss, welcher der Digitalisierung innewohnt, reagieren die Inhaber der Macht mit hilfloser Zensur und Manipulation der Informationen. (Und das gilt auch für einst bürgerliche, liberale Staaten, die bis dahin wenigstens den Schein eines Respekts gegenüber der freien Meinungsäußerung aufrechterhielten).

So bedrückend Nationalismus, Zensur und Willkür auch sind, wie stark diese Reaktion auch ist, in einer vollkommen globalisierten und digitalisierten Welt werden diese Phänomene auf Dauer keine Rolle spielen können. Wirken sie doch schon jetzt, am Beginn dieser neuen Entwicklung, hilflos und jämmerlich, allerdings dadurch umso gefährlicher.

Wenn es aber möglich ist, eine Weltgemeinschaft zu etablieren, wie könnte dann ein politisches System, was dem gerecht wird, aussehen? In der klassischen Politik (also der Wissenschaft des Zusammenlebens) und in der politischen Philosophie, teilt man oft in ein idealtypisches System und eins, was unter den realen Verhältnissen durchsetzbar wäre.

In der Antike bis zur frühen Neuzeit kennt man typischerweise die denkbaren Gesellschaftsformen als Sechsergruppe mit 3 guten und 3 schlechten Formen. Die guten sind da meist die Monarchie, als Herrschaft des Einen jedoch Guten, die Aristokratie als Herrschaft der Wenigen jedoch Fähigen, die Polite als Herrschaft der Vielen jedoch Würdigen. Die schlechten Formen sind mehrheitlich die Demokratie als die Herrschaft des Volkes und damit der Armen, die Oligarchie als die Herrschaft der wenigen Reichen und die Tyrannis als die Herrschaft eines Despoten, eines Tyrannen.

In der Neuzeit wandelt sich die Polite langsam in den wesentlich komplexeren Liberalismus oder in eine repräsentative Demokratie, was einer Staatsherrschaft gleich kommt. Die klassische Demokratie wandelt sich in den Kommunismus, der Diktatur des Proletariats. Seit der Aufklärung und dem Aufkommen des Individuums als politischer Akteur entstand eine weitere denkbare politische Form, der Anarchismus. War die Anarchie in der Antike lediglich die Abwesenheit des Staates, also das Nichtvorhandensein der Gemeinschaft, wurde er mit dem Aufkommen der Menschenrechte als Naturrecht und dem souveränen Individuum, als eine Herrschaft ebendieses Individuums, zum Nutzen aller begriffen.

Bereits Cicero erkannte, dass eine reine Herrschaft der oben beschriebenen 6 Formen einer komplexen Gesellschaft niemals gerecht werden würde und dass die einzelnen Formen sich immer, in einem Abwärtstrend, zum Schlechten und zur Instabilität bewegen. Er schlug also eine Verbindung aller Formen vor, was man als eine frühe Form der dialektischen Betrachtungsweise interpretieren könnte.

Nun gibt es in der Politik keinen moralischen Dualismus, der leicht gute von schlechten Gesellschaftsformen unterscheiden kann. In einer hochkomplexen modernen Gesellschaft, und erst recht in einer Weltgemeinschaft, gibt es so viele legitime Einzelinteressen und grundverschiedene Ausgangssituationen, dass es unmöglich wird ein System zu etablieren, was dem gerecht werden könnte. Die einzige Möglichkeit, die es gibt, ist die konsequente Anwendung der dialektischen Betrachtungsweise.

Da es ausgeschlossen ist, dass sich die Widersprüche vereinen lassen, müssen sie als Widersprüche akzeptiert sein. In der Dialektik gibt es den Dreischritt der These, Antithese und Synthese. Dabei lösen sich die widerstrebenden Teile, These und Antithese, in der Synthese auf. Wie diese Synthese in einer hochkomplexen Welt gelingen kann, ist eine Herausforderung der Menschheit. Auch da, und gerade da, kann uns eine Digitalisierung der offenen Quellen von enormen Nutzen sein.☰ Menu

Software und die offenen Quellen

Wenn wir davon ausgehen, was wir ja hier machen, dass die gesamte Welt und alle Bereiche der Gesellschaft digitalisiert sind bzw. werden, dann rückt eine Kulturleistung der Menschheit in den Fokus, die Software. Software und Programmiersprachen sind damit kein simples Nebenprodukt einer neuen Technik mehr, sondern sind das Rückgrat und die Basis dieser neuen digitalisierten Welt.

Programmiersprachen sind kunstvolle Informationswerkzeuge, die an Komplexität und Gehalt den klassischen Hochsprachen in nichts nachstehen. Alles, was wir heute als Digitalisierung oder Internet bezeichnen, beruht auf Software. Jede Applikation, jede Website, jede Maschinensteuerung, jede Steuerung eines Atomkraftwerks, einfach alles, was in irgendeiner Art digital ist (und das ist in einer digitalen Gesellschaft eben alles) wird über Software, das heißt über ein von Menschen erstelltes Schriftstück gesteuert. Es ist gewissermaßen Literatur in einem völlig neuen Sinn.

Wenn man sich das klarmacht, wird deutlich, dass es sich dabei um ein Machtinstrument, wenn nicht gar um DAS Machtinstrument einer neuen Zeit handelt. Software kann die Basis der Informationsgesellschaft, also die Information, beliebig ändern, manipulieren, löschen und erschaffen. Das ist zum einen ihre Aufgabe, zum anderen lässt dies enorm viel Platz zum Missbrauch aller Art.

Die Frage ist somit, wie lässt es sich erreichen, dass die Menschen, trotz unterschiedlicher Voraussetzungen und Fähigkeiten, Besitzer der Software werden können, die sie benutzten und benutzen müssen? Die Antwort ist, dass sich diese Software so weit dezentralisieren muss, dass sie am Ende niemanden gehört, oder positiv, dass sie allen gehört.

Dieser Grundsatz klingt recht abstrakt und undurchsetzbar. Aber es gibt eine verblüffend einfache Logik, die das bewerkstelligen kann. Und das ist, wie zu erwarten, die open source Software. Nicht alle quelloffenen Anwendungen sind damit gleich emanzipatorisch, aber die Struktur dahinter ist mächtig und hat die Fähigkeit dieses Ziel zu erreichen.

Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist die Relevanz quelloffener Strukturen nicht erkannt. Offene Software gilt als Nischenprodukt, welche zwar kostenlos, aber von meist schlechter Qualität ist. Die Idee dahinter scheint zu simpel, um von gesellschaftlichem Stellenwert zu sein. Doch schaut man sich die Definition genauer an, zeugt sie von enormer Kraft.

Wie oben erwähnt gibt es drei Grunddefinitionen als Voraussetzungen.

Zum einen wäre da die freie Zugänglichkeit. Die erste Definition lautet: “Die Software liegt in einer für den Menschen lesbaren und verständlichen Form vor”. Das heißt, jeder Mensch, der die entsprechende Programmiersprache beherrscht, kann das Geschriebene verstehen und in jeder Form verändern. Das setzt voraus, dass es für eine Allgemeinbildung in einer digitalisierten Welt unerlässlich ist, dass eine dieser “neuen” Sprachen beherrscht wird. Wäre das so, würde vollständige Transparenz der oben als Machtinstrument definierten Strukturen möglich sein. Da das nicht alle gleich gut können, reicht es bei einem vollkommen freien Quellcode ja, wenn eine ausreichend große Menge der Zoon politikon nach individuellen Fähigkeiten diese Überprüfung der Instrumente übernimmt. Da der Quelltext offen vorliegt, kann das eine enorm große Gruppe von Experten sein, die sich noch nicht mal kennen müssen, um diese Aufgabe zu erledigen.

Die zweite Definition lautet: “Die Software darf beliebig kopiert, verbreitet und genutzt werden.” Dies sichert zum einen, eine permanente Verfügbarkeit und zu anderen ist es eine radikale Abkehr vom Privatbesitz von Software. Moderne Software wird als Menschheitsleistung begriffen und kann damit keinen Besitzer haben. Verbindet man das mit der ersten Definition wird klar welches Potenzial dahintersteht und man kommt zur dritten Definition “Die Software darf verändert und in der veränderten Form weitergegeben werden.”

Wenn jeder zu jeder Software uneingeschränkt Zugang hat und diese Texte in jeder beliebigen Form verändern und wiederum allen uneingeschränkt zur Verfügung stellen kann, entsteht eine unglaubliche Kombination an Wissen. Auch werden, ganz dialektisch, Widersprüche aufgelöst. Sind die Anwendungen für eine Gruppe unnutzbar und falsch, dann kann sie Änderung zu ihrem Vorteil vornehmen, ohne die Gruppe zu bevormunden, die mit der Originalanwendung gut zurechtkommt.

Eine dialektische Synthese, ein echter Pluralismus könnte entstehen.



Föderal, Dezentral

George Orwell, einer der tiefgründigsten und einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, beschreibt in seinem ikonischen Buch “1984”(5) eine Welt eines zentralistichen Totalitarismus, der die Gesamtheit des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens durchdringt. Auch wenn es sich bei seinem Buch um einen Roman handelt, ist es doch eine scharfsinnige Analyse der spätmodernen Massengesellschaften.

Dass dies keine reine Fiktion ist und wie fatal sich das innerhalb und außerhalb der besagten Gesellschaften auf die Menschen auswirkt, haben viele, teils grausamste Beispiele in der jüngsten Geschichte bewiesen. Basis dieser Totalitarismen sind sowohl in Orwells Vision als auch in den realen geschichtlichen Ausführungen stets ein radikaler Zentralismus. Ein Zentralismus, der keinen Platz lässt, für eine individuelle Selbstverwirklichung oder ein pluralistisches Gesellschaftsmodell, was den Widersprüchen und Eigenheiten einer komplexen, modernen Massengesellschaft Rechnung trägt.

Es ist also davon auszugehen, dass sich in der Tendenz alle unübersichtlichen, entfremdeten Gesellschaften, auf Zentralismus und Totalitarismus zubewegen. Da dies früh erkannt wurde, beruhen die meisten frühen, bürgerlichen und liberalen Verfassungen auf einer Idee des Föderalismus, Dezentralismus und Individualismus.

Auch die entstehende digitale Gesellschaft hat diese totalitäre Tendenz. Heute dominieren wenige und als Monopol vereinte Tech-Companys einen Großteil des Internets und das in einem totalitären Sinn. Nicht nur sind alle digitalen Plattformen und damit alle dort stattfindende Kommunikation und soziale Interaktion unter der Kontrolle besagtem Monopols, sondern auch die Endgeräte und die technische Struktur sind weitestgehend nicht in der Hand derer, die sie benutzen müssen.

Dass damit eine umfassende Kontrolle und Überwachung im orwellschen Sinn stattfindet, ist heute gut bewiesen und dokumentiert und einem Großteil der Menschen bekannt. Damit bewegt sich die digitalisierte Gesellschaft auf dieselben Fatalismen zu, wie es die spätbürgerliche Gesellschaft getan hat. Höchstwahrscheinlich mit denselben grausamen Konsequenzen. Wir müssen also was tun.

Auch da geben uns die offenen Quellen und die offene Software mächtige Werkzeuge an die Hand. Eine der herausragenden Grundlagen dieser Struktur ist der Dezentralismus. Wie oben beschrieben, können die offenen Quellen von jedem Menschen beliebig manipuliert und verändert werden. Sie können damit an die eigenen Bedürfnisse oder die einer Gruppe angepasst werden, ohne dabei die Interessen der anderen Gruppen oder Individuen zu gefährden.

Besonders deutlich wird das bei der zwischenmenschlichen, sozialen Interaktion der Einzelnen. Diese hat sich heute zu einem sehr großen Teil in den digitalen Raum verlagert. Diese Art der Kommunikation ist besonders sensibel und schützenswert, da es sich hier um die Privatsphäre der Menschen handelt, die definitionsgemäß eben nicht für eine Öffentlichkeit bestimmt ist. Es ist leicht einzusehen, dass dieser Schutz der Privatsphäre in einem totalitären, zentralisierten digitalen Raum, wie wir ihn heute vorfinden, nicht möglich ist. In einer Totalität ist alles, auch die privateste Kommunikation, per se öffentlich.

Gelöst werden kann das Problem nur durch eben jene Dezentralisierung der dahinterliegenden Struktur. Ausgehend von der open source Bewegung entsteht zurzeit das sogenannte föderierte Internet (in der Alltagssprache oft Fediverse genannt). In dieser Föderation wird davon ausgegangen, dass sich z.B. die soziale Kommunikation im digitalen Raum auf wenige Standardprozeduren beschränkt. Diese werden als offene Standards definiert und von jedem Akteur im föderierten Netz akzeptiert. Dies führt zu einem enorm hohen Maß an individueller Freiheit und konsequenter Privatheit.

Schauen wir uns als Beispiel die sogenannten sozialen Medien an. In den sozialen Medien findet ein Großteil der privaten Kommunikation statt. Diese Medien sind heute in monopolistischer, totalitärer Hand. Diese Kommunikation beruht aber in der Struktur auf wenigen normierten Handlungen. So gibt es das Publizieren oder Posten, das Kommentieren anderer Publikationen, das Bekräftigen oder Liken, das Weiterpublizieren der Inhalte anderer, das sogenannte Teilen oder die direkte Kommunikation, das Chatten usw.

Beruhten also diese Handlungen auf offenen, für jeden Akteur nachvollziehbaren Standards, wäre es möglich, dass jede unabhängige Instanz, die sich an diese offenen Standards hält, mit jeder beliebigen anderen Instanz mit gleichen Standards auf oben gezeigt Art kommunizieren kann.

So wäre es in einem extremen Fall denkbar, dass jeder einzelne Mensch auf eigener Hardware eine solche Instanz als private Instanz betreibt und trotzdem fähig wäre, mit den anderen Instanzen zu kommunizieren. Da die Voraussetzungen Strukturen dieser Art zu betreiben nicht für jeden Menschen gegeben sind, könnten gesellschaftliche Akteure wie Vereine, Kommunen, Universitäten, einzelne Gruppen oder Individuen diese offene Struktur betreiben.

Da die dahinterliegende Software und die vereinbarten Normen als offene Quellen vorliegen, können sie auch von allen genutzt werden. Föderal, dezentral.

(5)Nineteen Eighty-Four. Penguin, London, 2021, (aktuelle Originalausgabe) ISBN 978-0-24-145351-3


Individuelle Kryptografie

In der klassischen Vertragstheorie à la Rousseau oder Hobbes, also im Kontraktualismus, geht man davon aus, dass sich eine Gesellschaft aus einem Urzustand entwickelt. In diesem Urzustand gibt es noch keine Gesellschaft und keinen Vertrag, es ist ein Zustand des amoralischen Rationalismus, in dem jeder Mensch auf sein eigenes Wohl achten muss, um zu überleben. Es ist die Konstellation “aller gegen alle”. Entsteht die Gesellschaft aus einem Urzustand, finden wir einen fairen Ausgangszustand vor oder profaner, im Zweifel kann jeder jeden töten. Ungleichheit entsteht erst mit Besitz.

Eine Gesellschaft wird nach dieser Theorie durch einen Vertrag (Kontrakt) gebildet, dieser Vertrag entsteht aus Notwendigkeit. Nun muss man die Vertragstheorie nicht teilen, sie zeigt aber gut, unter welchen Voraussetzungen (neue) Gesellschaften entstehen.

Auch heute stehen wir vor einer Neuverhandlung einer Gesellschaft. Allerdings nicht aus einem Urzustand, sondern als Übergang von der bürgerlichen in eine digitale Gesellschaft. Von einem fairen Ausgangszustand kann keine Rede sein, da die untergehende, spätmoderne, akkumulierte Gesellschaft in extremen Maße von Ungleichheit geprägt ist. Diese extreme Ungleichheit bildet sich, wie bereits gezeigt, durch die Entstehung digitaler Monopole schon in der neuen Gesellschaft ab.

Der Zustand des amoralischen Rationalismus (Hobbes nennt das “homo homini lupus” – der Mensch ist, dem Menschen ein Wolf) ist dagegen heute leicht zu beobachten. Der gesamte digitale Raum ist ein “militarisierter” Bereich. Im Zweifel greift jeder jeden an, es gibt praktisch keine Region, in der man sicher ist. Sobald man ein Gerät mit dem Internet verbindet, ist es öffentlich und angreifbar. Jeder gemütliche Nachmittag, mit Tablet und Smart TV auf dem Sofa, findet eigentlich mit geöffneter Geldbörse und in Unterwäsche auf dem Marktplatz statt.

Die überkommenen Monopole der kapitalistischen Gesellschaft sind nicht nur amoralische Akteure (wie alle anderen), sondern sie sind Wölfe auf dem Weg zum neuen Leviathan(6). Wölfe mit enormer Macht.

Um eine Gesellschaft ohne den Zustand des amoralischen Rationalismus sowie der monopolisierten Ungleichheit zu erreichen, benötigen wir auch da Werkzeuge. Werkzeuge, die nicht den Zustand “Aller gegen alle” grundsätzlich beenden wollen, sondern ihn anerkennt und in der Struktur unschädlich macht.

Dieses Werkzeug ist die Kryptografie. Kryptografie gibt es, seit sich die Menschen als widerstreitende Gruppen entgegenstehen. Nicht wenige Kriege wurden gewonnen, in dem die eigenen Informationen für den Feind unverstehbar verschlüsselt wurden bzw. die Informationen des Gegners entschlüsselte werden konnten. Da wir uns im digitalen Raum (und in der daraus resultierenden Informationsgesellschaft) in einer “militarisierten” Zone befinden, ist Verschlüsselung der eigenen, privaten Informationen für jeden Akteur essenziell und für ein freies, selbstbestimmtes digitales Leben unerlässlich.

Das bedeutet, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein Recht auf individuelle Kryptografie erkämpft werden muss. Individuell bedeutet in dem Zusammenhang, dass die Ver- und Entschlüsselung der eigenen Informationen nur durch das einzelne Individuum vorgenommen werden kann. Es gibt also keine Zwischeninstanzen. Im Klartext liegt die Information nur bei den individuellen Akteuren vor, an die sie auch gerichtet ist. Man nennt das Ende-zu-Ende-Verschlüsselung.

Da wir uns in der Übergangsphase von bürgerlicher zu digitaler Gesellschaft befinden, tobt ein Kampf um das Recht auf individuelle Kryptografie. Dieser Kampf wird so erbittert und brutal geführt, dass sich in der Umgangssprache der Begriff “Cryptowars”, also kryptografischer Krieg, eingebürgert hat.

Die Gegner der Kryptografie sind, wie zu erwarten, das etablierte, digitale Monopol sowie die überkommenen Strukturen der spätbürgerlichen Gesellschaften wie Staat und die, die alten Machtstrukturen verteidigenden, Exekutiven. Begründet wird diese Reaktion meist nicht mit Machterhalt, sondern mit der Schlechtheit der Menschen. Die Menschheit müsse überwacht werden, weil sie sich sonst zerstöre. Heiliges Mantra und Dreifaltigkeit ist in diesem Zusammenhang oft “Terroristen, Nazis, Kinderschänder” und die populistische Drohung, dass wir ohne patriarchalen Schutz diesen pathologischen Phänomenen schutzlos ausgeliefert wären. Gemeint ist aber eine kollektive Vorverurteilung aller, als Machtinstrument.

Wie oben gezeigt, geht auch die individuelle Kryptografie von amoralischen Akteuren aus, zeigt aber deutlich, dass der Schutz vor dem amoralischen Rationalismus der anderen nur der Schutz der eigenen Informationen sein kann. Ebenso ist es entscheidend, um mit den überkommenen, kapitalistischen Machtstrukturen der alten Epoche zu brechen.

(6)Thomas Hobbes: Leviathan. Cambridge University Press, Cambridge 1996, ISBN 978-0-521-56797-8.

Praktische Kryptografie

Dezentralisierung und individuelle Kryptografie sind essenzielle Voraussetzungen, um ein emanzipatorisches, selbstbestimmtes Leben aller Menschen im digitalen Raum zu ermöglichen. Während die Dezentralisierung der digitalen Interaktion ein strukturelles Verfahren darstellt und durch die Bereitstellung der Standardprozeduren und Normen als offene Quellen unabhängig vom einzelnen Individuum erreicht werden kann, ist die individuelle Kryptografie auch ein individuelles Problem.

Die Geschichte der modernen Kryptografie (wie sie auch heute weitestgehend im digitalen Raum angewandt wird) ist schon relativ alt(7) und hat mit der Digitalisierung erst einmal nicht viel zu tun. Moderne Kryptografie ist ein höchst komplexer Spezialbereich der höheren Mathematik und setzt ein enormes Abstraktionsvermögen und eine tiefe Kenntnis von Zahlenreihen, Chiffren und mathematischen Verfahren voraus.

Das Wissen darum ist also einer sehr kleinen Gruppe von Menschen vorbehalten. Dies berücksichtigend ist ein Kriterium für eine gute Chiffriermethode nicht nur der Schutz vor der Dechiffrierung durch unbefugte Dritte, sondern auch die sinnvolle und leichte Bedienbarkeit und unkomplizierten Handhabung der Methode durch Nutzer ohne entsprechende mathematische Kenntnisse.

Da eine individuelle Kryptografie, eine echte Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, immer vom einzelnen Individuum vorgenommen werden muss, da es keine Zwischeninstanzen geben kann, ist dies eine enorme Herausforderung für eine emanzipierte digitale Gesellschaft.

Bis zur Entwicklung der modernen Kryptografie im 20. Jahrhundert wurden alle Verschlüsselungsverfahren über das “Security through obscurity” Prinzip (also Sicherheit durch Unklarheit) verwirklicht. Unklar musste dabei das Chiffrierungsverfahren an sich sein. Jedem Teilnehmer, der an der verschlüsselten Kommunikation teilnehmen wollte, musste also das Verfahren zur Entschlüsselung bekannt sein. Das bedeutete weiterhin, dass es jedem Dritten, dem dieser Modus der Chiffrierung bekannt war, möglich wurde, alle mit diesem Verfahren verschlüsselten Inhalte zu dechiffrieren. Dieser Prozess ist also hochgradig unsicher und leicht zu kompromittieren. Und natürlich widerspricht die Geheimhaltung des Verfahrens völlig der Idee der offenen Quellen. Das kryptografische Verfahren muss dringend als offene Quelle vorliegen und überprüfbar sein.

Mitte des 20. Jahrhunderts entstand so eine Methode, die auf dem Austausch von Schlüsseln beruhte. Das zu einer Chiffrierung notwendige Geheimnis war also nicht mehr das Verfahren an sich, sondern beruhte auf einem geheimen Schlüssel, der sowohl Sender als auch Empfänger bekannt sein musste. Das ermöglichte zum einen das Offenlegen des Verfahrens und ermöglichte so, eine wissenschaftliche Prüfung dieser Methode und zum anderen stellte die Kompromittierung eines Schlüssels nicht das gesamte Verfahren infrage.

Schlüssel meint in diesem Zusammenhang, sowohl bei der mathematischen als auch der digitalen Chiffrierung, meist eine lange, komplexe Zeichenkette, die weder erraten, noch mit vertretbarem Aufwand errechnet werden kann. Im digitalen Raum ist es also meistens einfach eine Datei, die als Geheimnis dient. (natürlich ist moderne Kryptografie wesentlich komplexer, als es hier möglich wäre darzustellen)

Der Nachteil dieser, auch symmetrische Verschlüsselung genannten, Methode ist, dass auch der Schlüssel selbst zum Empfänger übertragen werden muss. Da die Ver- und Entschlüsselung denselben Schlüssel benutzt, muss auch Sender und Empfänger im Besitz dieses Schlüssels sein. Ist es im analogen Raum noch denkbar, dass der entsprechende Schlüssel durch einen vertrauenswürdigen Boten oder ein persönliches Treffen ausgetauscht werden kann, ist das im digitalen Raum mit Milliarden potenziellen Kommunikationspartnern schlicht unmöglich.

1976 entwickelten Whitfield Diffie und Martin Hellman ein asymmetrisches Verschlüsselungsverfahren(8). Diese Methode ist hervorragend geeignet, um auch im digitalen Raum unkompromittierbare Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zur Verfügung zu stellen und das auch, wenn sich Teilnehmer der Kommunikation nicht kennen. Heute ist dieses Prinzip auch das Standardverfahren jeder individuellen, verschlüsselten Kommunikation im Internet.

Diese Art der Chiffrierung beruht auf der Idee, dass jeder Teilnehmer zwei Schlüssel besitzt. Einen privaten und schützenswerten und einen öffentlichen, für alle anderen bekannten Schlüssel. Der öffentliche Schlüssel wird, wie der Name sagt, der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und kann dabei nur verschlüsseln. Ein öffentlicher Schlüssel kann also nichts dechiffrieren, auch nicht die Inhalte, die mit demselben Schlüssel chiffriert wurden.

Im Gegensatz dazu bietet der private, schützenswerte Schlüssel nur die Möglichkeit zu entschlüsseln. Inhalte, die mit einem öffentlichen Schlüssel chiffriert wurden, können also nur mit dem dazugehörigen privaten Schlüssel dechiffriert werden. Soll also eine echte individuelle Kryptografie ermöglicht werden, ist es notwendig, dass jeder individuelle Teilnehmer an der digitalen Kommunikation mindestens ein solches Schlüsselpaar besitzt und selbst verwaltet. Geht der private Schlüssel verloren oder erlangen unbefugte Dritte Zugang dazu, ist der verschlüsselte Inhalt unwiederbringlich verloren oder kompromittiert.

Das ist durchaus ein Problem, mit dem sich eine digitalisierte Gesellschaft konfrontiert sieht. Liegt die gesamte Struktur einer offenen, digitalen Gesellschaft als offene Quelle vor und ist damit jederzeit verfügbar, liegt es in der Natur der Sache, dass ein Geheimnis, was der private Schlüssel ja ist, nur dem Individuum bekannt sein sollte, an das die privaten Inhalte gerichtet sind.

Im analogen Raum ist es eine Selbstverständlichkeit, dass private Bereiche, wie z.B. die Wohnung, durch einen Schlüssel geschützt werden und das darauf entsprechend achtgegeben werden muss. Da ein Geheimnis wie ein Schlüssel nicht einfach in einer offenen Struktur hinterlegt werden kann, wird sich dieses Bewusstsein auch in einer digitalen Gesellschaft, für einen digitalen privaten Bereich, durchsetzten müssen. Zumal es dort weder Schlüsseldienst noch Brechstangen gibt.

(7) Claude Shannon: Die mathematische Kommunikationstheorie der Chiffriersysteme. In: Ein – Aus: ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie. 1. Auflage. 1949 Brinkmann und Bose, Berlin 2000, ISBN 3-922660-68-1,
(8) W. Diffie, M. E. Hellman: New Directions in Cryptography. In: IEEE Transactions on Information Theory. Band 22, Nr. 6, 1976